Bei der 55. Ausgabe (12. bis 21. April 2024) hat Visions du Réel die Ehre, die französische Regisseurin Alice Diop im Atelier zu begrüssen. Alice Diop, eine bedeutende Filmschaffende in den Bereichen Dokumentar- und Spielfilm, hinterfragt die französische Gesellschaft von ihrem Rand aus. Ihre Arbeit wird durch Diops Streben geprägt, einzigartigen Lebensläufen eine Gestalt zu verleihen – indem sie das Intime betrachtet, erforscht sie das Universelle. Die Veranstalter des Festivals freuen sich ankündigen zu dürfen, dass am 13. April eine Masterclass der Künstlerin stattfinden wird, die Frankreich bei den Oscars 2023 repräsentiert hat. Zusätzlich wird eine vollständige Retrospektive ihrer Filme gezeigt. Diese Einladung wird in Zusammenarbeit mit der HEAD – Genève ermöglicht.

Alice Diops Werk durchstreift geografische Räume, die auf den meisten Kinoleinwänden noch weitgehend unbekannt sind. Die Filmemacherin interessiert sich insbesondere für das Departement Seine-Saint-Denis, das vor den Toren der französischen Hauptstadt liegt. Dort ist Alice Diop aufgewachsen und genau dort macht sie sich auf die Spur, um an das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner der Vorstädte zu erinnern. Zwischen den Zeilen dekonstruiert sie das herrschende Narrativ, das den Pariser Vorstädten anhaftet – eine Darstellung, die oft aus einer Aussenperspektive und vor allem in Form von angsteinflössenden Bildern in den Nachrichten erfolgt. Ihr kohärentes Werk, das mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt wurde, verleiht Gemeinschaften eine Stimme, die oft ignoriert oder sogar zum Schweigen gebracht werden, und betrachtet das Intime, um das Universelle zu erforschen. Ein zutiefst politischer Ansatz, der auch die physische wie symbolische Gewaltausübung durch öffentliche Institutionen in Frankreich dokumentiert.

Alice Diops Werk ist von Referenzen durchzogen. Es enthält sowohl filmhistorische als auch literarische Elemente, welche die Trivialität des menschlichen Daseins widerspiegeln ‒ ob Fahrten mit der Regionalbahn, Gesprächen in einem Wettbüro oder Vorbereitungen in der Küche. Von scheinbarer Einfachheit geprägt (Huis Clos, Echtzeit, dokumentarisches Essay), macht ihre Arbeit die Vorstadt zu einem Feld für filmische, semantische und soziologische Experimente. Die politische Dimension des Alltags offenbart sich nackt, unerträglich, in einer ebenso reflexiven wie kraftvollen künstlerischen Geste.

Nach einem Master in Geschichte an der Universität Panthéon-Sorbonne und einem DESS in visueller Soziologie schrieb sich Alice Diop im Atelier documentaire de La Fémis ein. Seit 2005 dreht sie Dokumentar- und Spielfilme, die auf internationalen Festivals gezeigt werden. Ihre Karriere begann, als sie in die Siedlung ihrer Kindheit zurückkehrte (die Cité des 3000 in Aulnay-sous-Bois) und dort ihren ersten mittellangen Dokumentarfilm La Tour du monde (2006) drehte. Dann erkundete sie ein anderes intimes Territorium, indem sie drei Frauen aus ihrer Familie in Les Sénégalaises et la Sénégauloise (2007, 2008 bei Visions du Réel gezeigt) porträtierte. Seitdem ist Seine-Saint-Denis der Schauplatz der meisten ihrer Werke: Clichy pour l’exemple (2006), La mort de Danton (2011), RER B (2017) sowie der Film Vers la tendresse (2016), der 2017 mit dem César für den besten Kurzfilm ausgezeichnet wurde und beim Festival du Moyen métrage de Brive den ersten Preis gewann.

Diops erster Langfilm La Permanence (2016), der in einer Abteilung des Avicenne-Krankenhauses in Bobigny gedreht wurde, verschaffte ihr internationale Anerkennung, insbesondere weil sie darin eine ebenso präzise wie geduldige Methode zur Erfassung der Aussagen von Exilantinnen und Exilanten einsetzt, die sie aufsuchen, um sich beraten zu lassen. Mit ihrem zweiten Spielfilm Nous, der 2021 veröffentlicht und im gleichen Jahr ebenso bei Visions du Réel gezeigt wurde, trifft die Regisseurin auf die unterschiedlichsten Menschen, die entlang der Strecke der RER B leben – von den Teilnehmern an einer Jagd im Chevreuse-Tal bis zu den Bewohnern von La Courneuve. Für diesen Film gewann sie im selben Jahr den Encounters Award bei der Berlinale sowie den Preis für den besten Dokumentarfilm, der den besten Dokumentarfilm dieses Festivals in allen Bereichen auszeichnet.

Als eine Künstlerin, die sich auch jenseits der Leinwand engagiert stiess sie 2021 in Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou in Paris und den Ateliers Médicis in Clichy-sous-Bois die Initiative zum „idealen Filmarchiv der Vorstädte dieser Welt“ an. Diese Initiative bietet ein monatliches Programm mit Begegnungen und Filmvorführungen, um die „Einzigartigkeit der filmischen Ansätze zu zeigen, die üblicherweise unter dem Sammelbegriff ‚Banlieue‘ laufen“.

Im Jahr 2022 gelang Alice Diop mit dem Film Saint Omer ein brillanter Übergang vom Dokumentar- zum Spielfilm. Dieser Spielfilm – Ergebnis einer umfangreichen Recherche und inspiriert von einem 2013 geführten Prozess wegen Kindsmordes –, erschütterte Publikum und Kritiker. Er gewann den Silbernen Löwen und den Goldenen Löwen der Zukunft sowie ein Dutzend weiterer Preise auf zahlreichen internationalen Festivals, bevor er Frankreich bei den Oscars 2023 repräsentierte.

2022   Saint Omer (Spielfilm)
2021   Nous
2017   RER B (Kurzfilm)
206    Vers la tendresse (mittellanger Film)
2016   La Permanence
2011   La Mort de Danton
2007   Les Sénégalaises et la Sénégauloise (mittellanger Film)
2006   Clichy pour l’exemple (mittellanger Film)
2006   La Tour du monde (mittellanger Film)

Auswahl 2024